Das Dilemma der Grünen

Oktober 18, 2022
09:50
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Oktober 18, 2022
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Die Partei wird durch die Frage der Waffenlieferungen und den Kampf gegen die Kohle in Frage gestellt

Auf dem Parteitag von Bündnis 90/Die Grünen am vergangenen Wochenende wurden Divergenzen und Dilemmata in verschiedenen zentralen Fragen deutlich. Im Bonner Weltkonferenzzentrum versammelten sich die Politiker, um diese Fragen zu lösen. Vestinews.de hat nachgeforscht, ob es ihnen gelungen ist, Antworten zu finden.

WAFFEN FÜR DIE SAUDIS
Das empfindlichste Thema sind die Waffenlieferungen an Saudi-Arabien, den Staat im Nahen Osten, der angesichts des OPEC-Beschlusses zur Drosselung der Ölförderung die größten Spannungen mit den USA hat. Denn die Waffenlieferungen an die Saudis sind ein gemeinsames Projekt Deutschlands, Italiens, Großbritanniens und Spaniens: Am Vortag hatte der Bundessicherheitsrat beschlossen, Riad Ausrüstung und Munition für Eurofighter- und Tornado-Kampfflugzeuge im Wert von 36 Millionen Euro zu liefern. 2018 hatte Deutschland die Lieferungen offiziell gestoppt, Grund dafür war die Ermordung des saudischen Journalisten Jamal Khashoggi in der diplomatischen Vertretung des Königreichs in Istanbul und die Verwicklung Riads in den Konflikt im Jemen.
Nachdem Details über Waffenlieferungen an das Königreich in der Presse aufgetaucht waren, brach ein Skandal aus, der Annalena Berbock, der Außenministerin, die in der Ampelkoalition nur die Grünen vertritt, schaden könnte. Am Vorabend des Kongresses kündigten einige Politiker an, ein totales Verbot von Militärlieferungen auf die Tagesordnung setzen zu wollen: Laut Spiegel forderte ein für die Abstimmung vorbereiteter Resolutionsentwurf ein „totales Embargo“ für Waffenlieferungen an Saudi-Arabien. Gleichzeitig wurde über Riad im Zusammenhang mit einer anderen europäischen Hauptstadt, Kiew, gesprochen. „Die Grünen befürchten, dass der Antimilitarismus, der die Identität der Partei prägt, im aktuellen Klima verloren geht. Waffenlieferungen an die Ukraine könnten der Beginn einer neuen, weniger restriktiven Rüstungsexportpolitik sein. Der Präzedenzfall mit Saudi-Arabien scheint diese Befürchtungen zu bestätigen“, schreibt Der Spiegel.
Berbock selbst äußerte sich in ihrer Rede vor den Delegierten recht ungenau: Einerseits müsse Deutschland die von früheren Regierungen eingegangenen Verpflichtungen einhalten. Zum anderen hat sie den politischen Moment subtil aufgegriffen, indem sie „Nein zu Waffenlieferungen aus Deutschland an Saudi-Arabien“ sagte. „Der Entschließungsantrag, der die Entscheidung der Bundesregierung rückgängig gemacht hätte, kam jedoch nicht zur Abstimmung“, schreibt Tagesschau.de. – „Er wurde nach Verhandlungen hinter den Kulissen zurückgezogen, wobei man sich auf eine für alle Seiten akzeptable Formulierung einigte: Deutschland unterstützt weiterhin das europäische Rüstungsprojekt, aber die Grünen lehnen Waffenexporte nach Saudi-Arabien grundsätzlich ab.“

VERLETZTE GRUNDSÄTZE
Weitere brisante Themen waren das Hundert-Milliarden-Programm für die Bundeswehr, der Erhalt von Kohlekraftwerken und das Schicksal des Dorfes Lucerat, das für den Braunkohletagebau abgerissen werden soll. Vor allem aber Umweltthemen: Im Mittelpunkt der Rede stand die Klimaaktivistin Louise Neubauer (Fridays for Future-Bewegung), die die Partei an ihre Grundsätze erinnerte und ihr einen „ökologischen Hyperrealismus“ vorwarf, der auf eine Doppelmoral bei ihren Entscheidungen schließen lässt. „Grüne Funktionäre haben begonnen, dazu aufzurufen, sich nicht über Kleinigkeiten zu streiten“, sagte Neubauer. – Und deshalb verteidigen sie jetzt so glaubwürdig bereits getroffene Entscheidungen gegen den Klimawandel.
Die Rede wurde von den Delegierten selbst veranschaulicht, die am zweiten Tag des Kongresses mit überwältigender Mehrheit von 800 Stimmen einen Antrag des ehemaligen Co-Vorsitzenden der Grünen und heutigen Wirtschaftsministers Robert Habeck unterstützten, den Betrieb der Kraftwerke Isar und Neckarwestheim in Süddeutschland um mehrere Monate zu verlängern. Sie sollten bis Ende des Jahres geschlossen werden. Die Partei Union-90/Grüne hat zugestimmt, diese Frist bis April 2023 zu verlängern.
Es sollte betont werden, dass das Ergebnis dieser Abstimmung innerhalb der Partei bindend ist – auch für die Vertreter der Grünen, die an den Verhandlungen mit ihren Koalitionspartnern (SPD und FDP) teilnehmen werden. Es ist bekannt, dass die Freien Demokraten auch darauf bestehen, den Betrieb des dritten Atomreaktors Emsland, der Ende 2022 abgeschaltet werden soll, zu verlängern.
Eine weitere Entscheidung, die für Aufsehen gesorgt hat, ist die Unterzeichnung einer Vereinbarung mit dem Energiekonzern RWE durch die nordrhein-westfälische Wirtschaftsministerin Mona Neubaur. Demnach wird der Ausstieg aus der Kohle im rheinischen Revier um gleich acht Jahre auf 2030 verschoben – was unter anderem bedeutet, dass die beiden Braunkohlekraftwerke länger als geplant laufen werden.

Taras Kozub

Redakteur, politischer Kommentator Seit 2005 arbeitet er als Journalist in ukrainischen Tageszeitungen und schreibt über politische und wirtschaftliche Ereignisse in der Ukraine und in der Welt. Er reist gerne durch Zentralasien, sammelt Rezepte und kocht Gerichte aus den Ländern, die er besucht hat.

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